Friday, December 30, 2005

Was kann, soll, und darf Wissenschaft?

Wissenschaft als Mittel zur Erkenntnisgewinnung

Das ideale Bild, das ich früher von Wissenschaft hatte, fand Ihren Ursprung in der Philosophie. Diesem Bild gemäß war Wissenschaft nicht mehr als das Mittel zu einem Erkenntnisgewinn, der keine nationalen Interessen kannte und prinzipiell jedem Menschen zugänglich war. Unter Erkenntnisgewinn verstehe ich dabei die Anreicherung des gegenwärtigen Wissensstandes durch aktuellere, immer validere Information zur Erklärung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. So verstanden hatte Wissenschaft für mich den Anspruch einer moralischen Neutralität erheben dürfen, mit der Begründung, dass die Erklärung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten einem universalen, übergeordneten Menschheitsinteresse dient. Da reiner Erkenntnisgewinn ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, nämlich seinen Wissensdurst stillte, verstand ich Wissenschaft auch als weitgehend unabhängig von dem Nutzen oder Schaden, den die praktische Anwendung bringen würde. Ob die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungsbemühungen zum Guten oder zum Schlechten verwendet werden würden, lag – so dachte ich – letztendlich in der Verantwortung der Anwender; bei derjenigen Person also, welche „den Abzugshahn betätigt“ und nicht etwa bei dem Erfinder des Schiesspulvers.

Doch kann der Wissenschaftler auch heutzutage, angesichts komplexer, weitreichender Zusammenhange und globaler, möglicherweise irreversibler Konsequenzen des technologischen Fortschritts noch als neutraler Akteur, weit entfernt von moralischer Verantwortung, gesehen werden? Während ich theoretischen, geisteswissenschaftlichen oder grundlegenden Fachrichtungen noch am ehesten die Verfolgung eines reinen Erkenntnisgewinns zugestehen möchte, gilt dies in meinen Augen weniger für jene praktischen, angewandten Fachrichtungen, welche auf die Entwicklung neuer Technologien bis hin zur Produktreife abzielen. Es ist insbesondere die angewandte Wissenschaft, welche ich im folgenden kritisch betrachten möchte.

Wissenschaft als Mittel zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse

Gewiss hat die Menschheit dem technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt der letzten Jahrezehnte vieles zu Verdanken, allem voran einen gestiegenen Lebensstandart und eine gestiegene Lebenserwartung - zumindest für einen Teil der Weltbevölkerung. Doch abgesehen von dem anderen Teil der Weltbevölkerung, der von dieser positiven Entwicklung weitgehend ausgeschlossen blieb, gehen mit dem gestiegenen Lebensstandard auch wenig wünschenswerte Phänomene wie Klimawandel, Umweltzerstörung, Zivilisationskrankheiten oder soziale Unruhen einher, welche Zweifel an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit dieses Fortschritts aufkommen lassen.

Tatsächlich scheint der technologische Fortschritt sich Verselbstständigt zu haben und im Schopenhauerschen Sinne Ausdruck eines unkontrollierten Strebens, eines blinden „Fortschrittswillens“ geworden zu sein. Blind ist dieser Fortschrittswille, weil er kein Bewusstsein, kein Gewissen hat: weil er getrieben, nicht gelenkt ist. Und dieser zugrundeliegende Trieb verfolgt weniger den reinen Erkenntnisgewinn, als vielmehr die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse. An sich mag dies ein wünschenswertes Ziel sein, dennoch kann Wissenschaft, wie ich zeigen werde, nicht als Dienstleistung zum Wohl der Allgemeinheit angesehen werden.

Abbildung A. illustriert die Rolle von Wissenschaft in einem Produktentwicklungs-prozess, der auf Konsum und Gewinnerwirtschaftung ausgerichtet ist.


Abbildung A: Produktentwicklungsprozess von Forschung bis Konsum

Aus der Illustration wird zweierlei deutlich:

1) Wissenschaft ist entkoppelt von den realen Auswirkungen der Anwendung ihrer Erkenntnisse.

Reale Auswirkungen haben kaum einen Einfluss auf die zugrundeliegende wissenschaftliche Aktiviät. Eine regulatorische Rückkopplung, welche sich ggf. aus negativen Wirkungen auf Umwelt und Verbraucher ergibt, beschränkt sich in der Regel auf den betriebswirtschaftlichen Bereich, und das erst, nachdem Nebenwirkungen und Interessenkonflikte deutlich zutage getreten sind. Es kann daher bestenfalls Schadensbegrenzung oder –behebung betrieben werden. Verletzte Interessen, welche nicht vertreten werden, haben keine regulatorische Folgen.

2) Wissenschaft und Betriebswirtschaft befinden sich in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis.

Einerseits ist Wirtschaft auf wissenschaftliche Innovation angewiesen, welche neue Märkte schafft und die Produktivität steigert. Andererseits ist der Wissenschaftsbetrieb kostspielig und will finanziert werden, denn nicht Erkenntnisgewinn oder gar das Wohl der Menschheit sind die zugrundeliegenden Motive der Forschung - es sind individuelle Karrierebestrebungen von Forschern sowie die Gewinnerwirtschaftungsziele ihrer Geldgeber, welche die Forschungsrichtung weisen. Wissenschaft ist in erster Linie zu einer Dienstleistung an ihrem Geldgeber geworden.

Notwendigkeit für das Prinzip der Vorbeugung

Die Abhängigkeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft wird dann besorgniserregend, wenn die gewinnbringende Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse einen höheren Stellenwert einnimmt als Überlegungen zu allgemeinen, langfristigen Nutzen und Gefahren. Im Moment sieht es so aus, als würden ökonomische Sachzwänge zum einen die schnellsten Forscher belohnen und zum anderen die vorsichtigen dazu zwingen, mitzulaufen. Dabei sind es gerade die unerwarteten Folgen, die nicht beabsichtigten, unvorhergesehenen, langfristigen Nebeneffekte der Technologieanwendung, die Besorgnis erregen und deswegen das Prinzip der Vorbeugung notwendig machen.

David Appell (im Scientific American vom Januar 2001) beschreibt das Prinzip der Vorbeugung, das precautionary principle, folgendermaßen: Angesichts der Unwägbarkeiten unserer komplexen Umwelt sowie der Schwere der möglichen Konsequenzen technischen Fortschritts, die selbst gewissenhafte Wissenschaftler nicht vorherzusehen vermögen, sollte Vorsicht vor wissenschaftlicher Freiheit walten. Das Prinzip der Vorbeugung besagt im wesentlichen, dass, wenn eine Aktivität eine potentielle Bedrohung für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellt, vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden sollten. Nach dem Grundsatz, dass es besser ist, Schäden zu vermeiden, anstatt sie im nachhinein zu beheben (wenn sie überhaupt behoben werden können), gilt dieses Prinzip auch und gerade dann, wenn die Ursache-Wirkungsbeziehnungen nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden können.

Kritiker des Prinzips der Vorbeugung entgegnen, dass nützliche Innovationen unvermeidlich mit endlichen Risiken einhergehen, die es Wert seien, in Kauf genommen zu werden. Absolute Sicherheit, sagen sie, ließe sich in den wenigsten Fällen gewährleisten. Gleichzeitig wäre der Nachweis absoluter Sicherheit mit einem hohen Aufwand verbunden, der das wissenschaftliche Vorankommen hindere. Besonders fortschrittsgläubige Zeitgenossen weisen optimistisch darauf hin, dass der technologische Fortschritt eines Tages schon die Lösung der von ihm geschaffenen Probleme liefern würde. Offenbar führen - neben eigenen Interessen - unterschiedliche Annahmen über die Eintrittswahrscheinlichkeit und das Ausmaß des durch technologischen Fortschritt verursachbaren Schadens zu unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich der Frage, ob ein Risiko es wert ist, eingegangen zu werden. Dabei bedeutet schon allein der Umstand, dass Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential nicht mit Sicherheit bestimmt werden können, dass selbst eine optimistische Risiköinschätzung mit einem Risiko des Irrtums verbunden ist.

Wissenschaft als Mittel zur Gewinnerwirtschaftung

Bei näherer Betrachtung wird darüber hinaus deutlich, dass die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse wie sie gegenwärtig betrieben wird, kein universales Menschheitsinteresse verfolgt. Statt dessen wird das exklusive Interesse derjenigen gegenwärtig lebenden Menschen verfolgt, welche über die materiellen Mittel verfügen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und somit erst eine Gewinnerwirtschaftung ermöglichen. Die verletzten Interessen der vom technologischen Fortschritt ausgeschlossenen, der unter den Nebenwirkungen gegenwärtig oder zukünftig leidenden Menschen werden nicht berücksichtigt.

Forschungsprojekte, die keinen (ausreichenden) Profit versprechen, jedoch dem Interesse der Allgemeinheit oder einem übernationalen Interesse dienen würden, haben gegenwärtig kaum Aussicht, finanziert zu werden. Selbst der Staat, dessen Aufgabe es sein sollte, wissenschaftliche Forschung oder betriebswirtscahtliches Engagement in wenig profitablen aber nutzbringenden Bereichen zu fördern, ist als Teilnehmer eines globalen Standortwettbewerbs primär an technologischen Innovationen zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes interessiert.

Wissenschaftliche Forschung hat sich also, insofern als sie der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse unter der Voraussetzung der Gewinnerwirtschaftung dient, von ihrem Ideal der moralischen Neutralität entfernt. Der moderne angewandte Wissenschaftsbetrieb trägt damit eine moralischen Verantwortung. Diese moralische Verantwortung ist komplex in Umfang und Tiefe, aus mehreren Gründen:

· Kollektive Verursachung. Das Betreiben von Wissenschaft entspricht nicht der Handlung eines einzelnen Akteurs, sondern der eines Kollektivs – der wissenschaftlichen Gemeinde. Die Verantwortung ist geteilt und mag für den Einzelnen nicht offensichtlich sein, nichtsdestotrotz liegt eine Teilverantwortung vor.

· Mittelbare Verursachung. Als Ursache für ihre moralisch relevanten Konsequenzen ist der Wissenschaftsbetrieb oftmals nur mittelbar: Wissenschaft stellt Mittel zur Verfügung, schafft Voraussetzungen. Die wissenschaftliche Gemeinde nimmt eine Teilrolle im Produktentwicklungsprozesses ein, in welchem verschiedene Akteure wie Anteilseigner, Unternehmer, Konsumenten, Politik eine weitere Rolle spielen. Auch hier wird Verantwortung zwischen den verschiedenen Rollenträgern geteilt und eine Teilverantwortung liegt vor.

· Unklare Verursachung. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind unter Umständen nicht eindeutig geklärt, beruhen auf mehr oder weniger gut begründeten Verdachtsmomenten und lassen Spielraum für alternative Verursachungsmodelle. Verantwortung für negative Konsequenzen technologischen Fortschritts kann somit nicht eindeutig zugewiesen werden.

· Mangelnde Interessenvertretung. Die betroffenen Parteien haben unter Umständen keine Stimme um Ihre Interessen zu vertreten: entweder, weil sie ahnungs-, mittel- und machtlos sind, oder weil sie einer noch ungeborenen Generation angehören.

Wissenschaft als Mittel zur Wahrnehmung von Interessen

Die Wahrnehmung dieser Verantwortung verlangt - neben der Schaffung erhöhter Verantwortungstransparenz - die internationale Einhaltung des Prinzips der Vorbeugung. Damit einher geht eine grössere Unabhängigkeit der angwandten Forschung von Gewinnerwirtschaftungsinteressen und die Förderung wissenschaftlicher Forschungsanstrengungen hinsichtlich der Konsequenzen technologischen Fortschritts, welche auch die nicht vertretenen Interessen ungeborener oder mittelloser berücksichtigt. Damit ist nicht notwendigerweise eine Einstellung jeglicher möglicherweise schadhafter wirtschaftlicher Aktivitäten gemeint, sondern vielmehr eine Würdigung bislang nicht berücksichtigter Interessen durch angemessene Schadensersatz- und Vorkehrungsleistungen. Vordringliche Aufgabe der Wissenschaft ist es in diesem Zusammenhang, die langfristigen Konsequenzen technologischer Anwendung auf sämtliche betroffenen Parteien transparent zu machen, sowie Kosten-/ Nutzenpotentiale und Risiken angemessen zu erfasssen.

Zusammengefasst sollte Wissenschaft als Mittel zur Gewährleistung der Berücksichtigung sämtlicher begründeter Interessen dienen. Erst wenn dies gegeben ist, ist meines Erachtens der Zweck der Erfüllung menschlicher Befürfnisse und damit auch die wissenschaftliche Forschung frei von einem moralischen Gebot.